Tim Beeby


„Unsigned ist kein Manifest oder gar Geschäftsmodell,

es darf unlogisch oder widersprüchlich sein“


Ein Streitgespräch mit Wolfgang Ullrich


Macht erst eine Signatur ein Werk zu Kunst? Die Singener Galerie Vayhinger und der Künstler Tim Beeby haben in Berlin, Wien und Köln ein Experiment gewagt. „Unsigned Untitled Undated“ (ohne Signatur, ohne Titel, ohne Datum) funktioniert, wie Helena Vayhinger erklärt, ganz einfach: „Unsigned ist das Angebot an Besucher der Ausstellung, ein unsigniertes Werk aus Tim Beebys Serie ‚Inks' kostenlos mitzunehmen.“ Interessenten könnten die Leinwand signieren und datieren lassen, um sie dann zu erwerben – ab 1400 Euro aufwärts. Alle signierten Bilder werden dokumentiert und in Beebys Werkverzeichnis eingetragen. Unsignierte Werke werden nicht erfasst. Hierher passt gut die Redensart „Der Laie staunt, und der Fachmann wundert sich“. Der Leipziger Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich verwickelt den in Essen lebenden Künstler Tim Beeby in ein Streitgespräch, das zwischen Staunen und Zweifeln pendelt, dabei hartnäckig nachhakt, etwa wenn gefragt wird: „Legen Sie es damit nicht von vornherein darauf an, dass bei demjenigen, der eine Tafel nur mitnimmt, ein Gefühl von Defizienz entsteht? Dass man das ‚Umsonst' als Sparvariante empfinden muss, die im Vergleich mit einem offiziellen Kunstkauf immer unterlegen ist? Dass der Sparer also auch nicht dasselbe ästhetische Erlebnis haben kann wie der Sammler?“ Der per Email geführte Dialog endet überraschenderweise mit einer Frage vonseiten des Künstlers: „Was wäre, wenn ...?“

VOM PRAKTISCHEN ZUM KONZEPTIONELLEN


Wolfgang Ullrich: Herr Beeby, Ihr Projekt „Unsigned Untitled Undated“ ist regelrecht eine Versuchsanordnung. Sie testen das Kunstpublikum und seine Reaktionen auf ein spitzfindiges Setting, das die Logik des Kunstmarkts zum Thema hat. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie zu diesem Konzept veranlasst hat?


Tim Beeby: Unsigned Untitled Undated stellt das Publikum vor die Wahl, eine unsignierte, unbetitelte und undatierte Arbeit auf Leinwand kostenlos mitzunehmen oder sich für eine signierte Leinwand zu entscheiden und diese zu den marktüblichen Konditionen anzukaufen. In Bezug auf die verwendeten Materialien und das ästhetische Erscheinungsbild sind die unsignierten und die signierten Werke nicht voneinander zu unterscheiden.


Das Konzept hat sich im Wesentlichen aus meiner Serie Inks entwickelt, die ich seit 2012 verfolge. Die Inks sind prozessbasierte Arbeiten; es geht um den „Strom“ als fundamentales Phänomen: ein „Fließen von Lava, Biomasse, Genen, Memen, Normen, Geld… als Ursprung jeder nur erdenklichen stabilen Struktur, die wir kennen und verehren“, wie es Manuel De Landa in seinem Buch A Thousand Years of Nonlinear History beschreibt.


Eine der ersten mehrteiligen Inks war eine raumfüllende Installation mit Leinwänden in verschiedenen Größen. Ich habe zunächst circa fünfundzwanzig Leinwände aufgespannt und an die Wand gehängt. Nachdem ich drei oder vier davon mit Tusche markiert hatte, war die Arbeit fertig. Doch was sollte ich nun mit ihr machen? Es gab keine Gelegenheit, sie sofort auszustellen. Ich konnte sie entweder als Ganze lagern oder die leeren Leinwände für neue Arbeiten verwenden. Ich entschied mich für Ersteres, aber es schien absurd, leere Leinwände in Plastik einzuwickeln und in meinen Lagerraum zu stellen. Und um zu wissen, welche leeren Leinwände zu welcher Arbeit gehören, musste ich sie signieren. Also habe ich die Installation fotografisch dokumentiert, jede einzelne Leinwand signiert, betitelt und datiert, sie eingewickelt und ins Lager gepackt.


Die Folge war nicht nur, dass die Arbeit viel Platz in meinem Lagerraum beanspruchte, sondern ich mehr Geld investieren musste, um neue Rollen Leinwand und Keilrahmen zu kaufen. Ich denke, etwa zu dem Zeitpunkt entschied ich, dass die Leinwände zukünftig unsigniert bleiben sollten – es sei denn, jemand wollte sie kaufen. Später kam der Gedanke hinzu, wenn es eine Möglichkeit gäbe, Arbeiten auf irgendeine Art unsigniert wegzugeben, ließe sich Raum für neue Arbeiten schaffen. Es ging anfangs auch um die Last, mein eigenes Schaffen zu verwalten.


Und so hat das Nachdenken über ein praktisches Problem zu einer konzeptionellen Idee geführt. Aber Unsigned bestand am Ende nicht aus bereits fertigen Arbeiten. Es war mir wichtig, dass das Projekt eine ästhetische Einheit bildete, also habe ich neue Arbeiten dafür gemacht. Zu Anfang der drei Ausstellungen waren es jeweils einhundert Leinwände.



W. U.: Sie haben Ihren Versuch an drei Orten durchgeführt. Wie waren die Ergebnisse? Wie viele Bilder nahmen die Leute jeweils mit, wie viele wurden gekauft?


T. B.: Ich habe das Projekt in Berlin, Wien und Köln jeweils vier Tage veranstaltet. Jedes Mal sind durchschnittlich 30 bis 40 Arbeiten auf Leinwand mitgenommen worden, und insgesamt wurden sechs verkauft.


Die verkauften Leinwände wurden von mir fotografisch dokumentiert und in ein Werkverzeichnis eingetragen; an den Käufer wurde ein Echtheitszertifikat übergeben. Diese Arbeiten sind die einzigen, die ich als meine anerkennen werde. Vielleicht ist Unsigned Untitled Undated als konzeptuelle Arbeit erst dann wirklich abgeschlossen, wenn jemand versucht, eine unsignierte Leinwand in einem Auktionshaus zu versteigern.


W. U.: Könnte man sagen, die einen sind eher Kunstkonsumenten, die ein Bild danach auswählen, ob es in ihre Wohnung passt – sie freuen sich, wenn sie plötzlich ein Bild umsonst bekommen? Die anderen sind hingegen Sammler, für die das Bild nichts wert wäre, solange es nicht eigens als Kunst deklariert ist?


T. B.: Duchamp formulierte einmal die Frage: „Kann man Werke schaffen, die keine Kunst sind?“ (Peut-on faire des oeuvres qui ne soient pas «d'art»?) Wenn manche Besucher die unsignierten Werke als etwas gesehen hätten, das keine Kunst ist, so wäre die Antwort auf Duchamps Frage vielleicht gefunden. Aber in Wahrheit sehe ich es genau anders herum: Der wesentliche Punkt ist für mich, dass die unsignierten Arbeiten keine Handelsware sind. Sie sind nur Kunst, nichts anderes. Eine klare Trennlinie zwischen Kunstkonsumenten, die ihre Wohnung mit einem kostenlosen Schnäppchen verschönern wollten, und Sammlern, die aus strategischen Gründen nicht auf die Künstlersignatur verzichten wollten, war nicht zu erkennen. Im Prinzip reagierte jeder anders. In Köln zum Beispiel gab es mehrere Besucher, die meinten, dem Konzept am besten dadurch gerecht zu werden, dass sie eine signierte und eine unsignierte Arbeit nebeneinander aufhängen. Das war natürlich möglich, denn das Angebot, eine unsignierte Arbeit kostenlos mitzunehmen, schloss Käufer nicht aus.


In Hinblick auf die kostenlose Mitnahme gab es die Einschränkung „eine Leinwand pro Person“. Manche waren bescheiden, so wählten Paare, die zwei hätten mitnehmen können, eine einzige Leinwand aus. Andere wiederum begannen telefonisch möglichst viele Verwandte und Freunde zu rekrutieren, um den Ausstellungsraum mit der maximalen Zahl an Leinwänden zu verlassen. Was mich anbelangt, so werte ich keine der Reaktionen, jedes gezeigte Verhalten ist Teil der Arbeit in ihrer sozialen Dimension.


NUR KUNST, NICHTS ANDERES?


W. U.: Sie sagen, die nicht signierten Tafeln seien „nur Kunst“ – und nicht zugleich noch Handelsware. Doch was macht sie Ihrer Meinung nach zu Kunst? Normalerweise ist es ja – zumindest in der Moderne – eine Signatur oder andere Zertifizierung, die etwas als Kunst ausweist. In früheren Zeiten war es eine spezifische handwerkliche oder ikonografische Meisterschaft, die ein Werk über anderes erhob und zur Kunst werden ließ. Was aber sollte es in Ihrem Fall sein?


T. B.: Es ist die in der westlichen Kunst verankerte Konvention der aufgespannten Leinwand. Sie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als für eine aufgespannte Leinwand – im Unterschied zu allen anderen in der Kunst verwendeten Materialien – nur ein einziger Zweck denkbar ist, nämlich der, einer Malerei als Träger zu dienen. Wäre es etwas auf Papier, ließe es sich nicht eindeutig als Kunst identifizieren, ebenso gut könnte es sich um einen mit Bleistift skizzierten Lageplan, einen fotografischen Schnappschuss oder ein Werbeplakat handeln. Das gleiche trifft auf dreidimensionale Objekte aus konventionellen Kunstmaterialien wie Bronze oder Marmor zu: Statt Kunst könnte es ein Maschinenteil oder eine Fliese sein. Es ist nicht eindeutig als Kunst erkennbar; erst die Signatur weist es unmissverständlich als solche aus. Eine aufgespannte Leinwand hingegen umgibt immer die Aura von Kunst, selbst wenn sie unsigniert oder sogar leer bleibt.


FASSUNGSLOSIGKEIT UND TABUBRUCH


W. U.: Was wäre Ihrer Meinung nach denn anders, würde es sich um aufwendigere, gar in Wochen mühevoller Arbeit entstandene Gemälde handeln? Wären dann nicht die Skrupel größer, ein solches Werk ‚einfach so' zu nehmen. Man wäre im Zwiespalt, sich entweder im Unrecht zu fühlen, weil man ein so großes Geschenk angenommen hat, oder aber, sofern man es nicht annehmen will, damit zu hadern, relativ viel Geld für etwas gezahlt zu haben, das man auch umsonst hätte haben können. Bei vielen würde die Aktion also für eine gewisse innere Unruhe sorgen. Und Sie als Künstler könnten sie als große Geste, gar als Art von Potlatsch in Szene setzen: Was für ein erhabenes Zeichen, dass es Ihnen offenbar egal wäre, ob die Leute ihre Werke, in denen viel Aufwand steckt, anständig honorieren oder einfach mitnehmen!


T. B.: Ja, das Szenario, das Sie in Bezug auf aufwendigere Arbeiten entwerfen, entspricht genau dem, was im Ausstellungsraum vor sich ging! Die Situation hat die Anwesenden komplett in den Bann gezogen. Es war ein Konzept, das niemanden kalt ließ. Man sah sich förmlich zu einer ernsthaften Auseinandersetzung gezwungen, und jeder Einzelne war gefordert, für sich zu einer Gewissensentscheidung zu gelangen.


Die erste Station des Projekts war Berlin, und im Vorfeld der Ausstellung war es unmöglich vorherzusagen, was genau passieren würde. – Würden die Leute mit den Arbeiten interagieren und tatsächlich Leinwände mitnehmen oder sogar eine Arbeit kaufen? Einer der ersten Besucher war Gunnar Lützow, der später in der ZEIT einen Artikel über das Konzept schrieb (was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste). Sein Besuch wurde von Siegmund Kopitzki in einem ersten Artikel über die Aktion im Südkurier wie folgt beschrieben: „Der junge Mann, einer der ersten Besucher ... durchschreitet mehrfach den Galerie-Raum, nimmt mal hier, mal dort ein an die Wand gelehntes Bild in die Hand. Er scheint sich nicht entscheiden zu können. Endlich wird er fündig. Er packt, nach Rücksprache mit dem Künstler, ein großes Format, Tusche auf Leinwand, in zwei rote Plastiktüten und sagt Tschüss – ohne dafür Geld oder Kontaktdaten hinterlegt zu haben.“


Das war der Punkt, an dem bei allen der Atem aussetzte. Ein Moment der Fassungslosigkeit, die Frage: Kann das jetzt sein, ist das gerade wirklich passiert? stand im Raum. Ein Tabu war gebrochen.


Ich kann nachvollziehen, dass die in Ihrer Frage anklingende Vorstellung – es könne unter Umständen leichter fallen, eine Arbeit mitzunehmen, die mit geringerem Arbeitsaufwand verbunden ist – entstehen kann. Aber in der konkreten räumlichen Situation kam dieser Gedanke gar nicht erst auf. Die Besucher sahen sich mit Arbeiten konfrontiert, die offenbar sehr sorgfältig produziert worden waren, und die Präsentation in Stapeln wirkte präzise und skulptural. Das Ganze entfaltete eine minimalistisch-strenge Wirkung im Raum, der man sich nicht leicht entziehen konnte.


Das Angebot, ein Ink kostenlos mitzunehmen, war an keinerlei Bedingungen geknüpft. Man konnte eins kaufen – vielleicht als Investition –, aber aus ästhetischer und künstlerischer Sicht machte es keinen Unterschied.



EIN GEFÜHL VON DEFIZIENZ?



W. U.: Ihren letzten Satz bezweifle ich. Glauben Sie wirklich, dass es keinen Unterschied für die Wahrnehmung macht, ob jemand auf ein Bild blickt, das er oder sie aus einer Ihrer Ausstellungen einfach mitgenommen hat, oder ob der Blick auf ein Bild fällt, für das eine vierstellige Summe gezahlt wurde? Handelt es sich dabei nicht um verschiedene Formen von Besitz? Und erzeugt es nicht ein Gefühl von Luxus – in dem Sinne, in dem der Philosoph Lambert Wiesing es in seinem gleichnamigen Buch definiert –, wenn man Geld für etwas ausgibt, das man auch umsonst hätte haben können? Kann eine Person, die für ein Bild von Ihnen gezahlt hat, das also nicht als irrationales Verhalten empfinden, sich gerade damit aber auch die eigene Unabhängigkeit, die Überlegenheit über bloße Vernünftigkeit beweisen? Und entsteht daraus nicht eine ganz andere Wahrnehmung des Bildes – also eine andere ästhetische Qualität – als in dem Fall, in dem es ganz ohne Aufwand in den eigenen Besitz gelangt ist?


T. B.: Ich glaube, dass die von Ihnen angesprochene subjektive Wahrnehmung und das, was ich ästhetische und künstlerische Qualität nenne, in diesem Fall nicht deckungsgleich sind. Wir nähern uns dem Thema aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Zur Veranschaulichung möchte ich das Beispiel einer Kölner Sammlerin anführen, die eine Arbeit gekauft und eine zweite unsigniert mitgenommen hat, in der Absicht, beide nebeneinander aufzuhängen – da sie der Ansicht war, dem Konzept dadurch am ehesten gerecht zu werden. Würden wir ihr einen Besuch abstatten und die zwei Leinwände an ihrer Wand betrachten, so wäre für uns, da wir die Rückseiten nicht sehen könnten, nicht ersichtlich, welche der beiden die signierte ist. Der Teil unseres Urteilsvermögens, der den finanziellen Wert einkalkuliert, wäre somit ausgeschaltet, und übrig bliebe allein das ästhetische Erscheinungsbild, das wir nun zweifelsohne als sehr ähnlich wahrnehmen würden. Und es ist bestimmt auch davon auszugehen, dass die Besitzerin beide Leinwände gleichermaßen schätzt.


W. U.: Für den Rezipienten, der keine der Tafeln besitzt, trifft sicher zu, was Sie sagen: Eine gekaufte und eine mitgenommene Tafel haben dieselbe ästhetische Qualität. Für die Kölner Sammlerin, die Sie erwähnen, entsteht hingegen offenbar erst durch beide Tafeln zusammen ein Kunstwerk. Was aber gilt für andere Sammler, die nur eine Tafel gekauft haben, oder für Galeriebesucher, die einfach eine mitgenommen haben? Ich formuliere es mal so: Was könnte es für einen Grund für einen Sammler gegeben haben, eine Tafel zu kaufen, obwohl er auch eine umsonst hätte erwerben können, wenn es ihm dabei nicht um eine spezifische Erfahrung des Geldausgebens, des In-Besitz-Nehmens gegangen ist – außer es handelte sich um einen Mäzen, der Ihnen und der Galerie etwas Gutes tun wollte? Oder genügte es als Kaufanreiz schon, dass das Umsonst-Mitnehmen bei Ihrem Projekt rein negativ konnotiert ist, wie ja schon der Titel signalisiert? Immerhin wird all das verwehrt, was zu einem Kauf von Kunst gehört, also Signatur, Betitelung etc. Legen Sie es damit nicht von vornherein darauf an, dass bei demjenigen, der eine Tafel nur mitnimmt, ein Gefühl von Defizienz entsteht? Dass man das ‚Umsonst' als Sparvariante empfinden muss, die im Vergleich mit einem offiziellen Kunstkauf immer unterlegen ist? Dass der Sparer also auch nicht dasselbe ästhetische Erlebnis haben kann wie der Sammler?


T. B.: Über das Motiv der Käufer können wir natürlich nur spekulieren. Meinem Gefühl nach hat sie das Konzept so sehr überzeugt, dass sie in es „investieren“ wollten. Man könnte das durchaus als Erfahrung des Geldausgebens bezeichnen. Das Argument des In-Besitz-Nehmens dagegen lässt sich hier nicht ins Feld führen – denn die anderen besitzen es ja auch.


Betrachten wir einmal die Frage, auf welche Weise Kunstpublikum und Kunstbesitzer traditionell mit Kunstwerken interagieren. Die Interaktion des ersteren besteht darin, ein Kunstwerk anzuschauen und über es nachzudenken; seine Möglichkeiten sind auf die der Betrachtung und Kontemplation beschränkt. Letztere profitieren zusätzlich von der Erfahrung des Geldausgebens und der Inbesitznahme, und als Besitzer dürfen sie ihr Eigentum berühren, ihnen ist der haptische Umgang mit dem Kunstwerk erlaubt.


Dieser Gegensatz zwischen Publikum und Besitzern wird durch Unsigned Untitled Undated ausgehebelt, die Karten werden neu gemischt. Da die Erfahrung des Geldausgebens nicht zwangsläufig auch Bedingung ist, wird das (weniger vermögende) Publikum nun in die Lage versetzt, das Terrain zu betreten, das den Besitzenden vorbehalten ist. Die Eigentümer einer unsignierten Leinwand gewinnen die Erfahrung der Inbesitznahme hinzu, die in diesem Fall jedoch nicht an ein Geldausgeben gekoppelt ist, und der haptische Umgang mit ihrem Werk ist ihnen gestattet. Eine neue Art der Interaktion ist somit entstanden, die eine neue, umfänglichere und tiefere Beziehung zum Kunstwerk möglich macht.


Was den zweiten Teil ihrer Frage anbelangt, die negative Konnotation der kostenlosen Mitnahme, so zeigen sich hier die Macht der Konvention und die Grenzen der Sprache. Zwar wissen wir, dass die Übereinkunft, Kunstwerke zu signieren, erst seit der Renaissance existiert, aber dennoch betrachten wir sie als „natürlich gegeben“. Die Grenzen der Sprache treten in dem Moment hervor, in dem wir gegen die Konvention Stellung beziehen. Um unsere Verweigerung oder Aberkennung sprachlich darzustellen, sind wir gezwungen, auf einen Begriff zurückzugreifen, der eine Verneinung darstellt. Wir unterminieren das „signed“ mithilfe des Präfixes „un“.


EIN „PUNK-ROCK“-MOMENT



W. U.: Doch hätten Sie dann Ihr Projekt nicht „Liberated from Signature, Title and Date“ oder einfach „The Pure“ nennen können? Und damit das Signal aussenden, dass der traditionelle Sammler, der für Geld etwas erwirbt und dafür auf eine administrative Fixierung besteht, eine für die Kunst problematische Figur ist? Oder wäre Ihnen eine solche Botschaft zu weit gegangen?


T. B.: Auf Englisch wäre auch „free art“ möglich gewesen, das bedeutet „kostenlose Kunst“ und zugleich „befreite Kunst“. Der Slogan ist mir etwas zu einfach, aber ich denke, die Kunstwelt ist schon lange reif für einen "Punk-Rock"-Moment. Wenn Arbeiten für absurde Summen verkauft werden, kommt automatisch jedes kritische Potential abhanden. Um als Künstler den Kräften einer hyperkapitalistischen Gesellschaft zu widerstehen, reicht es nicht aus, die Ungerechtigkeiten unserer Zeit in Arbeiten zu thematisieren, vielmehr muss die Kunst an sich und aus sich selbst heraus politisch sein.


Unsigned eröffnet dem Kunstpublikum einen neuen Weg, mit Kunst umzugehen, und wirft ein kritisches Licht auf gesellschaftliche Ungleichheiten, wie sie auch in der Kunstwelt sichtbar werden. Im Prinzip funktioniert das Projekt so, dass die weniger Vermögenden durch die Ankäufe der Vermögenderen finanziell unterstützt werden: Es findet eine Art Umverteilung von Vermögenswerten statt. Im Gegenzug sind die, die eine Arbeit kostenlos mitnehmen, an der Umsetzung einer völlig neuen Kunststrategie, an einem Tabubruch beteiligt, was potentiell wiederum zu einer finanziellen Wertsteigerung der verkauften Arbeiten führen könnte. Unsigned ist ein konzeptueller Ansatz, der demokratischer und ökonomisch fairer ist.


W. U.: Kommen wir nochmal zum Titel Ihres Projekts zurück. Bisher haben wir vor allem darüber gesprochen, dass die einfach so mitgenommenen Bilder nicht signiert werden. Doch sind sie ja auch ‚untitled' sowie ‚undated'. Ersteres erscheint nicht ungewöhnlich, viele Werke der modernen und zeitgenössischen Kunst tragen den Titel ‚untitled'. Aber das ‚undated' scheint mir interessant zu sein. So ist für die gesamte Moderne die Datierung von Kunst höchst wichtig, weil damit markiert wird, zu welchem Zeitpunkt ein Künstler an welcher Stelle einer Entwicklung stand. Dahinter steht eine Idee von Fortschritt, es ging vor allem in den Avantgarden darum, möglichst früh möglichst weit zu sein – ‚weit' bezogen jeweils auf einen bestimmten Begriff von Kunst. Indem Sie nun die geschenkten Bilder undatiert lassen, anonymisieren Sie sie nicht nur, sondern berauben sie jeglichen kunsthistorischen Kontexts, aus dem heraus sie eine Bedeutung zugesprochen bekommen könnten.


T. B.: Das sind interessante Überlegungen. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es zu Zeiten der historischen Avantgarden, als eine große Zahl bahnbrechender Innovationen Schlag auf Schlag aufeinander folgten, wichtig war, kunsthistorisch einordnen zu können, wer was zuerst gemacht hat.


Aber das Wesentliche für mich ist, dass der Akt des Signierens, der Titelgebung und des Datierens die Vereinnahmung einer künstlerischen Arbeit durch ein administratives System einleitet. Ich glaube, teilweise wurde mir das durch meine Arbeit als Übersetzer für Kunstmuseen klar. Ich übersetze nicht nur Katalogtexte, sondern arbeite gelegentlich auch an Werklisten, und diese Aufgabe, eine aus unterschiedlichsten Materialien zusammengesetzte Arbeit in eine kurze Abfolge von Worten zu ‚übersetzen', ist in meinen Augen eine Art und Weise, sie bürokratisch zu zähmen. Sobald sie in eine Institution eintritt, wird die Arbeit unweigerlich sprachlich erfasst – aber vielleicht geschieht das auf Kosten ihrer ursprünglichen Kraft.



INSTABILES GLEICHGEWICHT



W. U.: Das hieße aber, dass die Tafeln, die umsonst mitgenommen werden, jene ursprüngliche Kraft der Kunst noch besitzen, da sie gleichsam ungezähmt bleiben. Müsste man ihren künstlerischen Wert dann nicht auch höher schätzen als den der katalogisierten Werke? Und ist es nicht paradox, dass Sie als Künstler dann gerade für die Werke, die die stärkste künstlerische Kraft besitzen, jegliche Autorschaft dementieren? Ja, folgt aus Ihren Überlegungen nicht sogar, dass der Verweis auf einen Urheber die reine Kraft der Kunst immer schon beeinträchtigt?


T. B.: Für mich ist die Stärke dieses Projekts seine fundamentale Widersprüchlichkeit. Auf einer Seite handelt es sich um ein utopisches Projekt, wobei Kunst kostenlos weggegeben wird, auf der anderen wird ebenso anerkannt, dass Leute in Kunst investieren und sie weiterverkaufen wollen. Es ist unmöglich, die unsignierte und die signierte Leinwand in ein symmetrisches Verhältnis zueinander zu setzen oder eine Rangfolge zu definieren.


Um nochmals auf Ihre Frage der Datierung und Anonymisierung zu kommen: In meiner Fantasie stelle ich mir ein Museum in ferner Zukunft vor, in dem ein Exemplar von Unsigned gestrandet ist und vielleicht so katalogisiert wurde: „Künstler unbekannt, Westeuropa, vermutlich Ende 20./Anfang 21. Jahrhundert“. Ich finde die Vorstellung nicht schlecht. – Und entspräche das nicht genau dem, wie mit nichtwestlichen „Artefakten“ schon von jeher in westlichen Museen umgegangen wird?


W. U.: Die Wahrscheinlichkeit, dass das eintreten wird, sinkt jedoch mit unserem Gespräch erheblich. Mit seiner Publikation erfährt eine breitere Öffentlichkeit von Ihrem Konzept – und die Anonymität ist dahin. Insofern könnte man es sogar als inkonsequent ansehen, dass Sie überhaupt irgendwo über Ihr Konzept sprechen. Damit bringen Sie auch die unsignierten Tafeln in Verbindung mit Ihrem Namen. Und warum sollte man dann alles von einer Signatur abhängig machen?


Sie haben recht, wird ein Artikel oder Gespräch veröffentlicht, ist das auch wieder eine Art, ein Kunstwerk zu zähmen. Es wird kunsthistorisch erfasst, und spezifische sprachliche Interpretationen und Bedeutungen sind daraufhin mit dem Werk verbunden.


Bei den bisherigen Unsigned-Aktionen habe ich zwar nicht absichtlich versucht, meinen Namen zu verstecken, er stand jedoch nirgends groß geschrieben, und er war insbesondere kein Teil des Wandtexts. Es ist gut möglich, dass manche Leute eine Leinwand mitgenommen haben, ohne meinen Namen zu kennen, obwohl ich mit allen gesprochen und fast jedem die Hand geschüttelt habe. Mir war von vornherein bewusst, wie seltsam es klingen würde, wenn der Titel der Aktion Tim Beeby: Unsigned Untitled Undated lauten würde.


Aber in dem Punkt, dass alles auf die Signatur hinausläuft, würde ich Ihnen widersprechen. Die signierten und unsignierten Arbeiten umkreisen einander, ohne dass je ein stabiles Gleichgewicht entsteht; in ihrer Wechselbeziehung vertieft sich vielmehr das Konzept. Unsigned ist kein Manifest oder gar Geschäftsmodell, es darf unlogisch oder widersprüchlich sein. Es stellt lediglich die Frage: „Was wäre, wenn ...?“


Tim Beeby: „Unsigned ist kein Manifest oder gar Geschäftsmodell, es darf unlogisch oder widersprüchlich sein. Ein Streitgespräch mit Wolfgang Ullrich“, in: Paolo Bianchi (Hrsg.). Staunen. Plädoyer für eine existenzielle Erlebensform, erschienen als Band 259 von „Kunstforum International“, Köln 2019, S. 126–135.


KUNSTFORUM International Bd.259

Tim Beeby – Ein Streitgespräch mit Wolfgang Ullrich

Tim Beeby, Unsigned Untitled Undated

Ausstellungsansicht Haus 1 Berlin, November 2017

Tim Beeby, Unsigned Untitled Undated

Atelieransicht September 2017

Tim Beeby, Unsigned Untitled Undated

Ausstellungsansicht Goltsteinstr. 49, Köln, September 2018

Tim Beeby, Unsigned Untitled Undated, Ausstellungsansichten Galerie Vayhinger, Singen, zu Gast bei galerie bechter kastowsky, Wien, Juni 2018